Prof. Dr. em. Jürgen Udolph
Sprachen die Nutzer der Himmelsscheibe von Nebra keltisch?
Kurze Vorschau:
” – Die Verbreitung germanischer, geographischer Namen zeigt, dass die Germanen um 500 v. Chr. nicht aus dem Norden kommen, sondern das Zentrum lag in Sachsen-Anhalt, wo ein mildes Klima herrschte und wertvolle Lössböden eine ideale Lebensgrundlage bildeten!
– Unter den germanischen Namen liegt ein Substrat voreinzelsprachlicher Relikte, bei denen es unmöglich ist anzugeben, aus welcher indogermanischen Sprache sie stammen. Dazu gehören vor allem Gewässernamen.
– Diese europäischen Gewässernamen müssen in das 2. vorchristliche Jahrtausend datiert werden, also ziemlich genau in die Zeit, als Menschen die Himmelsscheibe auf dem Mittelberg bei Wangen nutzten.
– Es gibt europäische Gewässernamen, die Beziehungen zum Indischen und Iranischen enthalten. Das bedeutet, dass die Sprache der Sprecher, die die Namen gegeben haben, keine indogermanische Einzelsprache gewesen sein kann, sondern das Ostindogermanische noch einbezogen war; sie sprachen voreinzelsprachliche Dialekte, die der indogermanischen Gemeinsprache sehr nahe stehen. Es waren keine Kelten oder Germanen, es waren indogermanische Stämme.“[1]
Ein Querschnitt aus der umfangreichen Arbeit von Prof. Udolph:
“Um gleich übertriebene Hoffnungen zu dämpfen: es wird in diesem meinem Beitrag nicht gelingen, zu der Volkszugehörigkeit dieser Menschen etwas beizutragen, aber – und darin liegt die Absicht dieses Beitrages – wohl doch zu der Sprache der Nutzer und ihrer Mitmenschen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde fast alles, was in Europa an Altertümlichen gefunden wurde, den Kelten zugeschrieben … und diese Keltomanie hält bis heute an. … Diese Überbewertung des Keltischen ist mit Sicherheit verfehlt. Wenn man als Sprachwissenschaftler an das Keltische herangeht und fragt, welche sprachlichen Spuren dem Keltischen zuzurechnen sind und wo Kelten gesiedelt haben, so bleibt immer noch ein großer Bereich Europas übrig (die Britischen Inseln, Frankreich, weite Bereiche der Iberischen Halbinsel, Süddeutschland, Teile der Schweiz und Norditalien; von eher vereinzelten Nachweisen auf dem Balkan und in Kleinasien [Briefe an die Galater] abgesehen), aber es scheiden auch beträchtliche Bereiche Nord- und Mitteldeutschlands und das östliche Europa aus. Schon von hieraus ist mit keltischen Namen in Sachsen-Anhalt und Thüringen nicht zu rechnen. (Beispiele für keltische Ortsnamen: briga = hill; briwa = bridge; dunon = fortess; magos = Feld; usw. – Der Rhein bildet etwa die Ostgrenze der Kelten. Östlich des Rheines und nördlich der Donau sind kaum Spuren vorhanden.) …
Außerhalb der Sprachwissenschaft wird immer noch verkannt, dass keine Sprache Europas irgendwann „auf einmal da ist“, sondern sich in einem langen, mit Sicherheit über Jahrhunderte hinweg verlaufenden Prozess erst entwickelt hat. Man glaubt mit Sicherheit annehmen zu können, dass die sogenannten Inselkelten auf den Britischen Inseln nicht immer dort siedelten, sondern vom europäischen Festland aus übersetzten. Als Bereich, der in hohem Maße verdächtig ist, die Keimzelle der keltischen Sprachen gewesen zu sein, lässt sich anhand der Gewässernamen der Westalpenraum und das Rhône-Gebiet wahrscheinlich machen (Busse 2007; Udolph 2010a). Die Zeit kann nur geschätzt werden: Es hat einiges für sich, die ersten Jahrhunderte des letzten Jahrtausends v. Chr. anzunehmen. Damit ergibt sich für das Gebiet an Unstrut und Saale: zum einen sind hier keltische Namen nicht nachweisbar, zum anderen kann es diese um 1.600 v. Chr. noch gar nicht gegeben haben, denn das Keltische war – als Sprache – noch gar nicht entstanden. Erst allmählich hat sich diese Sprache aus einer indogermanischen Grundlage heraus entwickelt und Eigenheiten angenommen, durch die sie sich von den übrigen indogermanischen Sprachen abgegrenzt hat. Gleiches gilt für das Germanische: dieses hat sich wahrscheinlich noch ein wenig später entfaltet, so dass die Sprache, die die Nutzer der Scheibe vor 3.600 Jahren gesprochen haben, weder Germanisch noch Keltisch gewesen sein kann. Beide Idiome gab es noch gar nicht. …
Aus dem Gesagten geht hervor, dass es sich bei dieser Sprache nur um eine Vorstufe des Keltischen und Germanischen gehandelt haben kann oder aber um eine andere, unbekannte Sprache. Da sowohl Keltisch wie Germanisch als indogermanische (außerhalb des deutschen Sprachgebietes: indoeuropäische) Schwestersprachen erkannt worden sind, kann man die Alternative präzisieren: sprach man an der Unstrut einen indogermanischen Dialekt oder eine fremde, vielleicht nichtindogermanische Sprache? …
Die Antwort auf diese Frage und damit auch nach der Sprache der Nutzer der Scheibe kann man nur auf einem einzigen, allerdings immer noch unterschätzten Weg gewinnen: es geht um die geographischen Namen, in erster Linie um die Gewässernamen. Deren Wert ist schon längst erkannt worden, es genügt, auf ein bekanntes Wort des – wie man sagt – letzten Universalgelehrten hinzuweisen. G.W. Leibniz, der nicht weit von Nebra entfernt in Leipzig und Jena studiert hat, konstatierte bereits vor mehr als 300 Jahren: „Ich bemerke nebenbei, dass die Flussnamen, da sie gewöhnlich aus der ältesten Zeit stammen, am besten die alte Sprache und die alten Bewohner bezeichnen, weswegen sie eine besondere Untersuchung verdienten.“ [2] …
Unter Einbeziehung historischer Erkenntnisse werden die geographischen Namen nach Auffassung der Sprachwissenschaft und Namenforschung folgenden Sprachschichten zugeordnet (Bischof 1967; Greule 2005, 2009a; Walther 1971):
– Deutsch (Hochdeutsch, darunter aber ein niederdeutsches Substrat, oft nur noch in Resten und ältesten Spuren erkennbar, vgl. Bischoff 1967, 235ff. mit Karte 27)
– Slavisch
– Germanisch (also aus einer Periode, in der die Ausgliederung in die einzelnen germanischen Sprachen noch nicht erfolgt war)
– Indogermanisch.
Innerhalb der einzelnen Gruppen lassen sich noch Untergruppen herausarbeiten, vor allem im Germanischen (was noch gezeigt werden soll). Bei der Behandlung der einzelnen Namen muss ich mich sehr beschränken. Ich biete historische Belege nur in einer Auswahl, wobei allerdings auf die ältesten besonderer Wert gelegt wird, und diskutiere die Etymologie nur eingeschränkt. Es geht vor allem darum zu erkennen, aus welcher Sprache der jeweilige Ortsname geschaffen worden ist. … (Anmerkung: Es folgenden sehr interessante Untersuchungen zu den verschiedenen Bildungen hoch- und niederdeutscher, slavischer, germanischer Ortsnamen. Zum letzten Punkt folgender Ausschnitt:)
Für die Frage, wie man germanische von deutschen Namen trennen kann, ist ein Wort von H. Krahe (1964a, 26) hilfreich: es geht um „Bildungen, die … nicht mehr unmittelbar an noch erhaltenes altdeutsches Sprachgut angeknüpft werden können, für die vielmehr erschlossene Wortformen aus altgermanischer Zeit vorausgesetzt werden müssen“. Man muss also die germanischen Schwesterdialekte wie Gotisch, Altnordisch, Altenglisch, Altfriesisch usw. zu Rate ziehen.
Ortsnamen auf –leben: Die viel diskutierten Namen auf –leben (dazu zuletzt und ausführlich Udolph 1994, 497-513; leider ungedruckt ist Bathe [1955]) müssen in ihrer Entstehung älter sein, also die oben behandelten Komposita auf –dorf, -stedt und –burg. Dafür gibt er mehrere Argumente:
a.) Zur Zeit der deutschen Ostsiedlung, die im 9. Jh. begann, war das Grundwort –leben schon nicht mehr produktiv, oder, mit anderen Worten, es war aus dem aktiven Wortschatz der Siedler verschwunden.
b.) Die Namen auf –leben enthalten ein Grundwort, das nicht auf das Deutsche beschränkt ist, es „gehört zu got. laiba ‛Überbleibsel, Rest’, ahd. leiba, as. lēva ‛Rest, Erbe, Nachlaß’, afries. lâva ‛Hinterlassenschaft, Erbe, Erbrecht’, ae. lâf ‛Hinterlassenschaft, Erbe’, an. leif ‛Überrest’, vgl. adän. kununglef ‛Krongut’. Nach weit verbreiteter Ansicht liegt wohl die Bedeutung ‘Hinterlassenschaft, Erbe’ zu Grunde, ähnlich wie bei Ortsnamen auf –erf, oder ganz allgemein ‛Eigentum’. Das Grundwort lautet im Altdänischen –lef, ahd. –leiba, as. –leva, mnd. –leve, neudän. –lev und nhd.
c.) In Dänemark und Skandinavien haben die –leben-Namen mit Bildungen auf –lev/-löv ein genaues Gegenstück (Søndergaard 1972).
Das Unstrut-Gebiet hat mit zwei Namen Anteil. In den historischen Belegen erscheinen gelegentlich niederdeutsche Lautformen wie –leve, -levu, -levo (Memleben, Roßleben, … wobei die erste Hälfte Mem-, das Bestimmungswort, in den älteren Ortsnamen für einen Personennamen Mimo- oder Im(m)o- steht).
Auch die Verbreitung dieser Namen zeigt, dass sie nicht auf Deutschland beschränkt sind: Karte zur Verbreitung der -leben und – lev/- löv – Namen (aus Udolph 1994, 503).
Wenn wir diese Karte betrachten, kommen die Germanen nicht aus dem Norden, sondern das Zentrum lag in Sachsen-Anhalt, wo ein mildes Klima herrschte und wertvolle Lössböden eine ideale Lebensgrundlage bildeten!
Zwischenergebnis
Die Untersuchung der geographischen Namen am Unterlauf der Unstrut erlaubt es, erste Schlussfolgerungen für die Siedlungsgeschichte zu ziehen. Ausgehend von den jüngeren und jüngsten Namenschichten, die aus hoch- und niederdeutschem Sprachmaterial gewonnen worden sind, muss man östlich von Nebra mit slavischen Namen und slavischer Besiedlung rechnen. Darunter findet sich im gesamten Einzugsgebiet der Unstrut eine germanisch geprägte Namenlandschaft, deren älteste Vertreter in den suffixalen Bildungen zu sehen sind, wir behandelten Namen mit –ing-, -r- und –st-Suffix.
Mit diesen Namen kommen wir in eine Zeit um Christi Geburt und können somit mit germanischen Relikten – ich betone nochmals, es geht ausschließlich um die sprachliche Seite – im Tal der Unstrut rechnen. Damit sind wir von den Nutzern der Scheibe aber immer noch ca. 1.500 Jahre entfernt. Aus namenkundlicher Sicht sind wir bisher nur andeutungsweise in denjenigen Bereich vorgestoßen, der die ältesten sprachlichen Elemente in Europa enthält: es sind die Gewässernamen. Zu deren Entstehung und Datierung gebe ich im Folgenden einige allgemeine Hinweise. Gewässernamen entstehen und entstanden zu allen Zeiten. In Europa können wir im Bereich der jeweiligen indogermanischen Einzelsprachen auch mit entsprechenden Namen rechnen, d.h. mit keltischen in Frankreich, in Süddeutschland, in Norditalien, in weiten Bereichen der Iberischen Halbinsel sowie auf den Britischen Inseln; mit germanischen in Nord- und Mitteldeutschland, in den Niederlanden und in Skandinavien; mit slavischen in weiten Teilen Osteuropas; mit baltischen im Baltikum; mit thrakischen, dakischen, griechischen und illyrischen auf dem Balkan. Die außereuropäischen Verwandten, etwa Indo-Iranisch, Indisch, Tocharisch und Hethitisch lasse ich beiseite.
Unter diesen einzelsprachlichen Namen liegt ein Substrat von älteren Relikten. Während man diese früher als keltisch, illyrisch oder venetisch bezeichnete, hat sich seit den Untersuchungen von H. Krahe (1949-1965/1966) die Auffassung durchgesetzt, dass man diese alten Reste keiner indogermanischen Einzelsprache zurechnen darf, sondern einer älteren, voreinzelsprachlichen, indogermanischen Schicht, die man „Alteuropäische Hydronymie“ nennt (grundlegend: Schmid 1994, vgl. auch Udolph 1990, 2010). Es war schon früher aufgefallen, dass es Gewässernamen gibt, die ein Netz ergeben, dass sich über weite Bereiche Europas spannt, und immer wieder wurde gefragt: Inwieweit sind Zala in Ungarn mit der Fränkischen oder Thüringischen Saale in Deutschland zu verbinden? Kann die Nidda bei Frankfurt/Main von der Nida bei Krakau getrennt werden? …
Trotz heftiger Kritik (vgl. dagegen Udolph 2003) bleibt dieses Faktum unbezweifelbar: es gibt eine Schicht von Gewässernamen in Europa, die aus keiner der späteren indogermanischen Einzelsprachen erklärt werden kann und die aus voreinzelsprachlicher Zeit stammen müssen. Dass dabei das nur durch (Re)Konstruktion zu gewinnende Indogermanische die entscheidende Rolle spielt, haben vor allem die Untersuchungen von W.P. Schmid (1994) deutlich gemacht.
Damit stehen wir vor zwei Fragen:
1.) Gibt es entsprechende Namen in der Umgebung von Nebra? 2.) Wie alt sind diese Namen?
Gewässernamen
In der näheren Umgebung von Nebra liegen Unstrut und Saale. Beide Flüsse tragen alte Namen und können für die Frage, aus welcher Sprache sie stammen und in welcher Zeit sie ihre Namen erhalten haben, herangezogen werden. Hinzu kommen einige Ortsnamen, die offensichtlich ihre Benennung den Flüssen verdanken, an dessen Ufern sie liegen. Man spricht in diesem Fall von Teilabschnittsnamen, denn man muss sich klar machen, dass kein längerer Fluss ursprünglich von der Quelle bis zur Mündung so geheißen hat wie es heute der Fall ist. Die heutige Geltung eines Namens für einen bestimmten Wasserlauf ist fast immer das Ergebnis eines historischen Prozesses. …
Daher ist man sich einig, dass in der Umgebung von Nebra etliche Ortsnamen ursprüngliche Gewässernamen sind und somit in die Kategorie der Hydronyme gehören. In Frage kommen hier Groß- und Klein Jena und Nebra, umstritten ist Bad Kösen.
Mit dem Ortsnamen Nebra, nach dem die Himmelsscheibe benannt worden ist, soll unser Blick in die Gewässernamen beginnen. In der Namenforschung hat sich die Meinung durchgesetzt (Eichler/Walther 1986, 195; Greule 2005, 252; Greule 2009a, 115; Greule 2009b, 149; Udolph 1994, 185), dass der Ortsname Nebra als alter Teilabschnittsname der Unstrut aufzufassen ist. Nach Ulbricht 1957, 245 scheint der Name Unstrut „zunächst nur die Quellbäche dieses Flusses zu bezeichnen“. Wir haben also eigentlich einen Gewässernamen vor uns. …
(Die heutige Endung –a in Nebra geht, wie auch bei Jena, Gera und weiteren Namen, auf kanzleisprachlichen Einfluss zurück, am Ende des 15. Jhs. erscheint noch die Namenform Nebere in der Handschrift. …)
Wie immer empfiehlt sich zunächst eine Auflistung der historischen Belege. … Aus diesem Material ergibt sich mit großer Sicherheit, dass der Ortsname Nebra auf einen Gewässernamen zurückgeht, dessen Parallelen so weit gestreut sind, dass einzelsprachliche Herkunft nicht vertreten werden kann (Ulbricht 1957, 245 hatte noch eine keltische Deutung vertreten). Es handelt sich vielmehr um eine Namensippe, die nur mit Hilfe des indogermanischen Wortschatzes und der indogermanischen Wortbildung erklärt werden kann. …
Die Gewässernamen Nebra, Unstrut, Saale und Jena darf man in die Schicht der voreinzelsprachlichen, vorgermanischen Relikte einordnen. …
Zusammenfassung und Ergebnisse
Die Untersuchung und Analyse ausgewählter geographischer Namen am Unterlauf der Unstrut und im Bereich der mittleren Saale hat zu folgenden Ergebnissen geführt:
Unter einer Schicht von hoch- und niederdeutschen Namen, die mit ihren ältesten Spuren in die Zeit bis ca. 500 n. Chr. datiert werden können, lassen sich östlich von Nebra slavische Relikte erkennen, die aus der Zeit der slavischen Besiedlung, etwa seit dem 8. Jh., stammen; westlich davon fehlen sie.
Mit Suffixen gebildete germanische Namen sind ein wichtiger Bestandteil dieser Region. Bei einigen von ihnen ist deutlich geworden, dass sie in gemeingermanischer Zeit entstanden sein müssen; man darf annehmen, dass die ältesten in den letzten Jahrhunderten v. Chr. entstanden sind.
Unter den germanischen Namen liegt ein Substrat voreinzelsprachlicher Relikte, bei denen es unmöglich ist anzugeben, aus welcher indogermanischen Sprache sie stammen. Dazu gehören vor allem Gewässernamen, darunter auch der Ortsname Nebra, eigentlich ein alter Flussname (Teilabschnittsname der Unstrut). Er darf daher weder als germanisch oder keltisch, auch nicht als illyrisch oder venetisch bezeichnet werden. Zur Zeit der Entstehung dieser Namen waren die indogermanischen Sprachen noch nicht in die später bekannten Einzelsprachen differenziert. H. Krahe bezeichnete diese Schicht der Namen als „alteuropäisch“ und als „alteuropäische Hydronymie (Anmerkung: altgriech. hydor = Wasser und onoma = Name -> Namensforschung der Gewässernamen)“.
Zu diesen ältesten sprachlichen Spuren in Europa können noch einige Aussagen, vor allem zum Alter, gemacht werden. Da diese Namen älter sind als die zu unterschiedlichen Zeiten überlieferten indogermanischen Einzelsprachen, müssen sie älter sein als:
– die Entfaltung und Entwicklung des Germanischen (ca. 500 v. Chr.)
– die Herausbildung des Slavischen (etwa um Christi Geburt)
– die Fixierung altkeltischer Sprachen (ca. 500 v. Chr.)
– die Belege italischer (oskisch-umbrischer und latino-faliskischer) Dialekte (ab 7. Jh. v. Chr.)
– die Überlieferung altindischer und altiranischer Dialekte (ca. 900 v. Chr.)
– das Griechische (als Linear B ab ca. 1.200 v. Chr. überliefert)
Die komplizierte Frage des Verhältnisses zwischen dem Hethitischen (seit ca. 1.600 v. Chr. überliefert) und weiterer altanatolischer indogermanischer Sprachen zum postulierten „Indogermanischen“ lasse ich hier beiseite.
Aber auch ohne Berücksichtigung dieser am frühesten überlieferten indogermanischen Sprachen in Kleinasien ist klar, dass die europäischen Gewässernamen Europas in das 2. vorchristliche Jahrtausend datiert werden müssen, also ziemlich genau in die Zeit, als Menschen die Himmelsscheibe auf dem Mittelberg bei Wangen nutzten. Dafür spricht eine Erscheinung, die in der Diskussion um die Besiedlung Europas durch indogermanische Stämme viel zu kurz kommt: ich meine die Beobachtung von W.P. Schmid (1994, 128ff.), dass es europäische Gewässernamen gibt, die Beziehungen zum Indischen und Iranischen enthalten. Er hat nachgewiesen, dass in zahlreichen Hydronymen Europas Wortschatzelemente verborgen sind, die nur in den ostindogermanischen Sprachen, (etwa Indisch, Tocharisch, Iranisch) nachgewiesen können, etwa altindisch sindhu– „Fluß“, das sich wiederfindet in Sinn ->Main, Shannon (Irland), Shin (England), San -> Weichsel.
Das bedeutet, dass die Sprache der Sprecher, die die Namen gegeben haben, keine indogermanische Einzelsprache gewesen sein kann, sondern das Ostindogermanische noch einbezogen war, mit anderen Worten: die Sprecher sprachen voreinzelsprachliche, der indogermanischen Gemeinsprache sehr nahe stehende Dialekte.
Zum Einen ergibt sich daraus, dass eine indogermanische Zuwanderung aus dem Osten kaum angenommen werden darf. Und zum Andern – und das ist für unsere Frage wichtig – erfordert diese Erscheinung zwingend, das Alter der indogermanischen Gewässernamen in Europa nicht zu niedrig anzusetzen. Nach wie vor scheint die folgende Schätzung von H. Krahe (1964a, 33) die richtige zu sein: „Die alteuropäische Hydronymie ist strukturell und semasiologisch von hoher Altertümlichkeit. Sie muss bereits in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends voll ausgebildet gewesen sein“.
Gewässernamen wie Saale, Unstrut, Nebra und Jena gehören dieser Schicht an. Sie erhielten ihre Namen aus dem Wortschatz ihrer Schöpfer – und diese sprachen zweifellos einen indogermanischen Dialekt.
Damit können wir auf die eingangs gestellte Frage, welche Sprache die Nutzer der Scheibe von Nebra gesprochen haben, zurückkommen. Es war, wie hoffentlich deutlich geworden ist, weder Germanisch noch Keltisch. Diese Idiome gab es 1.600 v. Chr. noch nicht. Es kann sich nur um eine Vorstufe dieser Sprachen gehandelt haben und dafür bietet sich allein das nur durch Vergleich und Konstruktion in Fragmenten zu gewinnende Indogermanische an.
Fragen aus der Öffentlichkeit
Diese Ergebnisse dürften durchaus auch auf das Interesse der Öffentlichkeit stoßen, denn nicht nur dort wurde und wird die Frage nach den Menschen gestellt, die die Scheibe genutzt haben. Aufgefallen sind mir z.B. Bemerkungen in der Internet – Ausgabe von pm history (Juli 2004), in der unter den Titeln: „Was die magische Himmelscheibe den Forschern verrät“ und „Goseck, 25 Kilometer östlich von Nebra: Hier lag das Stonehenge Deutschlands“, u.a. die folgenden Fragen, Bemerkungen und Aussagen zu finden sind:
„Was waren das für Menschen, die in der frühen Bronzezeit im Raum des heutigen Deutschland siedelten? Sie lebten nicht in Städten, hatten keine Schrift, und Stammesnamen sind auch nicht bekannt … Diese Menschen waren irgendwann eingewandert, viele von ihnen am Ende der Steinzeit und zu Beginn der Bronzezeit. Sie kamen von überall her. Vielleicht aus der russischen Steppe, vom Balkan, aus Skandinavien oder von der Iberischen Halbinsel … Spricht man Archäologen auf frühe Kelten und Germanen an, winken sie entsetzt ab … Eigenartig – man weiß nichts Konkretes über die Menschen der hiesigen Bronzezeit. Aber dass es keine Kelten und Germanen waren, weiß man genau“.
Greift man diese Bemerkungen aus Sicht der Sprachwissenschaft und Namenforschung auf, so kann man in einigen Punkten durchaus zu einigen Ergebnissen kommen. Ich stelle sie zum Abschluss meiner Gedanken hier zusammen:
– Die vor 3.600 Jahren am Unterlauf der Unstrut siedelnden Menschen hatten zwar noch keine Schrift und
ihre Stammesnamen sind unbekannt geblieben, aber sie benannten bereits die Gewässer und aus deren Namen können Erkenntnisse gezogen werden.
– Eine Einwanderung dieser Menschen muss keineswegs zwingend angenommen werden. Auf keinen Fall kamen sie aus der russischen Steppe, vom Balkan, aus Skandinavien oder der Iberischen Halbinsel. Aus indogermanistischer und namenkundlicher Sicht ist vielmehr das Baltikum von Bedeutung, denn hier findet sich ein Kontinuitätszentrum indogermanischer Gewässernamen (Schmid 1994, 175-192, 232ff.) und die Parallelen zwischen Namen in Deutschland und im Baltikum sind nicht zu übersehen (Casemir/Udolph 2006; Udolph 1999b).
– Es waren keine Kelten oder Germanen, es waren indogermanische Stämme.“ [3]
[1] www.eurasischesmagazin.de/images/magazin/04-10/udolph_nebra.pdf (Leider ist der Link seit 2022 nicht mehr gültig, dafür jetzt: https://www.eurasischesmagazin.de/artikel/Sprachen-die-Nutzer-der-Himmelsscheibe-von-Nebra-wirklich-keltisch/20100411)
[2] Französisches Original in: G.W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C.I. Gerhard, Bd.5, Berlin 1882, S.264, Übersetzung nach H. Arens
[3] www.eurasischesmagazin.de/images/magazin/04-10/udolph_nebra.pdf und die kursiv geschriebenen Anmerkungen habe ich während des Vortrages von Prof. Udolph, zum Symposium für Archäoastronomie, am 2. November 2013, in der >Arche Nebra<, notiert. (Leider ist der Link seit 2022 nicht mehr gültig, dafür jetzt: https://www.eurasischesmagazin.de/artikel/Sprachen-die-Nutzer-der-Himmelsscheibe-von-Nebra-wirklich-keltisch/20100411)
Weiterlesen: Nebra liegt an der Bernsteinstraße …