Dass es sich bei den beiden großen und zentralen Elementen der Himmelsscheibe von Nebra um die Sonne oder den Mond handelt, wird niemand bezweifeln. Allerdings lassen sich bei der Untersuchung dieser Symbole viele widersprüchliche Aussagen finden. Eine Tatsache, die vermutlich beabsichtigt ist, um mit nur zwei Symbolen alle mit bloßem Auge sichtbaren, phänomenologischen Erscheinungsformen von Sonne und Mond aufzuzeigen.
Sonne und Vollmond
Die kreisrunde Goldscheibe scheint die Sonne, den Vollmond und, wie sich später noch herausstellen wird, sogar auch die Erde zu symbolisieren. Aber die Reste einer Strichelung, die wie eine Korona anmuten (Wunderlich, 2004: 401Wunderlich, Christian-Heinrich (2004). Vom Bronzebarren zum Exponat – Technische Anmerkungen zu den Funden von Nebra. Der geschmiedete Himmel. Konrad Theiss Verlag) scheinen vor allem das Abbild der Sonne zu betonen.
Neben jener Kreisscheibe befindet sich etwa auf gleicher Höhe eine goldene Sichel, die durch ihre besondere Formgebung visuelle Eigenschaften einer Mondphase, einer Mondfinsternis und einer Sonnenfinsternis enthält.
Die Sichelgestalt einer Mondphase
Bei dem Sichelsymbol ist einerseits der Umfang des Mondes, verdeutlicht worden, der in der Zeichnung durch die blaue Linie angedeutet wird. -Hierzu sei angemerkt, dass der unbeleuchtete Bereich des Mondes oft auch tagsüber sichtbar ist.- Andererseits stimmt der innere Kreisbogen der Sichel, die rote Linie, mit der Schattengrenze eines 4,5 Tage alten Mondes überein. Demnach könnte es sich um die Darstellung einer zunehmenden Mondsichel handeln, die nach Sonnenuntergang im Westen zu sehen war.
Wenn man die veränderliche Lichtgestalt des Mondes länger beobachtet, wird schnell klar, dass seine helle Seite immer der Sonne zugewandt ist. Es macht einen enormen Unterschied, ob er der Sonne frontal gegenübersteht oder sich seitlich von ihr befindet. Aus diesen Gründen verändert sich Schattengrenze des Mondes, die nur ein Erdbürger so wahrnimmt, permanent. Wenn der Mond noch in Sonnennähe steht, ändert sich die Sichelbreite zwar nur wenig, aber der Schattenradius nimmt schnell zu. Die Abbildung 2 zeigt eine etwa 4,5 Tage alte zunehmende Mondsichel neben einer 6 Tage alten Sichel, deren Schattenbogen schon viel größer und elliptisch ist. Dieser ovale Kreisbogen streckt sich weiter, bis er in der Halbmondphase zur Geraden eines Halbkreises wird.
Zudem ist, wenn man genau hinguckt, die beleuchteten Mondseite sehr häufig nicht exakt zur Sonne ausgerichtet. Warum das so ist, das hat Stephan Mayer ausführlich beschrieben und durch zahlreiche Illustrationen belegt (Mayer, 20083Mayer, Stephan (2008). Mondneigung. https://www.psy-mayer.de/links/Mondneigung.pdf)).
Eine weitere Auffälligkeit der goldenen Mondsichel ist ihr Neigungswinkel. Verbindet man ihre Enden durch einen Strich, so ergibt sich von dieser Linie eine Abweichung zu der zuvor ermittelte Horizontlinie, die auf der Bronzescheibe zwischen dem Ost- und Westpunkt verläuft, um 15°. — Eine solche Neigung der Mondsichel kann man im Frühling und Herbst vor dem Hintergrund des Tierkreises beobachten, wenn dieser seine mittlere Umlaufhöhe und die extremsten Schrägstellungen erreicht.
Sollte erneut die Kenntnis dieser jahreszeitlichen Himmelsmechanik thematisiert werden oder ist der 15°-Winkel eher als ein Hinweis auf die mathematischen Fähigkeiten des Schöpfers der Himmelscheibe zu verstehen?
Abschließend sei noch erwähnt, dass wenn es sich bei den beiden großen Goldelementen der Himmelsscheibe um die Abbildung des Vollmondes zusammen mit einer Mondsichel handelt, dann müssten es zwei zeitlich aufeinander folgende Erscheinungsformen sein. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die blaue Umfangslinie der goldenen Sichel zweimal die Kreisscheibe schneidet, siehe Abbildung 1. Dasselbe gilt für die Sonne und eine Sonnenfinsternis.
Widerspruch: Gegen die Interpretation einer 4,5 Tage alten Mondsichel spricht, dass durch den Mond (= Sichel + unbeleuchteter Teil) die dahinter befindlichen Sterne unsichtbar wären. Es dürften auf der Himmelsscheibe innerhalb des blauen Kreises keine goldenen Sterne dargestellt sein. Außerdem müssten die goldene Sichel und die Kreisscheibe ungefähr die gleiche Größe haben, weil Mond und Sonne, von der Erde aus betrachtet, gleich groß erscheinen. Diese Aussage betrifft auch die folgenden Hypothesen.
Die Sichelgestalt bei einer Mondfinsternis
Doch gerade weil auf der Himmelsscheibe die Sichel größer ist als die Kreisscheibe, könnte sie auf das eindrucksvolle und seltene Ereignis einer Mondfinsternis hinweisen. Eine solche Finsternis tritt immer bei Vollmond ein, wenn der Mond im Osten und die Sonne im Westen steht, oder kurz nach ihrem Untergang. Natürlich ist dieses Szenarium ebenso andersherum möglich, mit der Sonne im Osten und dem Mond im Westen. Auf jeden Fall stehen sich Sonne und Mond gegenüber und dazwischen ist der Beobachter auf der Erde, denn er muss den Kopf von rechts nach links wenden, um die beiden Gestirne zu sehen.
Daher können bei einer Mondfinsternis leicht folgende Erkenntnisse gewonnen werden:
1. Das, was den Mond langsam verdunkelt, muss der aufziehende Erdschatten sein.
2. Der Mond sendet kein Licht aus, sondern er reflektiert nur das Sonnenlicht.
3. Der Erdschatten verdeutlicht, dass die Erde rund sein muss!
Widerspruch: Auf der Fotomontage (Abbildung 3) sieht man im direkten Vergleich, dass der innere Kreisbogen der goldenen Sichel der Himmelsscheibe von Nebra viel kleiner gewählt wurde, als der Umfang des Erdschattens bei einer Mondfinsternis.
Die Sichelgestalt bei einer Sonnenfinsternis
Wie bei der Mondfinsternis scheint nur das unglaubliche Erlebnis einer Finsternis die enorme Größe der goldenen Sichel im Vergleich zur Kreisscheibe zu rechtfertigen. Zudem hat das Sichelsymbol der Himmelsscheibe auch Eigenschaften, die auf eine totale Sonnenfinsternis verweisen, wenn der Mond am helllichten Tage die Sonne verdunkelt. Denn der Umfang vom Mond und der dahinter befindlichen Sonne sind scheinbar gleich groß. Nur diesmal wird seine Rückseite beleuchtet, so dass man nur seine unbeleuchtete Seite vor der die strahlenden Sichel der Sonne sieht.
Dabei ist bemerkenswert, dass bei einer Sonnenfinsternis am Tage Sterne sichtbar werden, die normalerweise vom Tageslicht überstrahlt werden und deshalb unsichtbar waren. Dieses Phänomen könnte auf der Himmelsscheibe dargestellt worden sein, da vermutlich mit voller Absicht Sterne im Bereich der Mond- / Sonnenüberdeckung abgebildet wurden. Demzufolge sind bei einer Sonnenfinsternis und auf der Himmelsscheibe Sterne sichtbar, die eigentlich unsichtbar sind.
Und natürlich wird sich ein geübter Astronom die hellen Fixsterne in der Nähe der verdunkelten Sonne gemerkt haben. Dadurch konnte er in der nächsten Nacht überprüfen, dass der Mond, wie jeden Tag die gleiche Strecke in Richtung Westen zurücklegte und nun etwas weiter westlich derselben Sterne stand. Somit war der Beweis erbracht, dass der im Tageslicht unsichtbare Vollmond die Sonne verdeckt haben muss. Auch hier sah man eindeutig, dass er nicht selber leuchtete, sondern nur die Sonnenstrahlung reflektierte.
Widerspruch: Richtig ist, dass die Außenseite der goldenen Sichel dem Umfang von Sonne und Mond entspricht. Allerdings müsste der innere Kreisbogen ebenfalls den Umfang des Mondes aufweisen, aber er ist sehr viel größer.
Finsternisse, die in der Frühbronzezeit in Mitteldeutschlandsichtbar waren
„Zu einer Sonnenfinsternis kommt es, wie bei einer Mondfinsternis, nur in der Umgebung der Schnittpunkte von Mondbahn und Sonnenbahn. Wenn ein Neumond bei einem dieser beiden Mondknoten eintritt, vollzieht sich die Konjunktion von Sonne und Mond so, dass beim Vorübergang der Mond die Sonnenscheibe ganz oder teilweise verdeckt und damit verfinstern kann. Erfolgt die Bedeckung unmittelbar beim Knoten, so wird die Sonnenfinsternis zentral, entweder total oder ringförmig. Bei weiterem Abstand zum Knoten, bis zu 6 Grad, entsteht nur eine teilweise (partielle) Finsternis” (Schultz, 1963: 877Schultz, Joachim. (1963). Rhythmen der Sterne. Philosophisch Anthroposophischer Verlag am Goetheanum Dornach / Schweiz ).
Laut der Tabelle von Antonius Schrode, die er anhand der Aufzeichnungen aus dem “Kanon der Finsternisse“ publiziert hat, besteht durchaus eine Wahrscheinlichkeit, dass der Fürst von Leubingen, der um 1942 v.Chr. beigesetzt wurde, eine der seltenen, zentralen Sonnenfinsternisse gesehen haben könnte.
Trotzdem lässt sich der Zeitpunkt, wann in der Bronzezeit eine Finsternis eintrat, aufgrund der ungleichmäßigen und unberechenbaren Erdrotation nicht genau bestimmen. Vor allem bei einer Sonnenfinsternis, deren schnell wandernde Totalitätssichtbarkeit in einer nur höchstens 260 km breiten Erdregion sichtbar war, lag man zeitlich und räumlich schnell daneben.
Der Größenunterschied zwischen der goldenen Sichel und der Kreisscheibe könnte auf eine Mondillusion hinweisen
Uns allen ist sicherlich schon einmal ein besonders großer Mond oder eine riesige Sonne am Horizontrand, kurz nach dem Aufgang oder vor dem Untergang aufgefallen. Dieser Effekt wird noch immer als Mondtäuschung oder Mondillusion untersucht und bis heute gibt es keine endgültige Erklärung dafür.
Der Dipl.-Psych. Stephan Meyer hat die Himmelsscheibe mit Unterstützung von Prof. Wolfhard Schlosser auch daraufhin untersucht (Mayer, 20028Mayer, Stephan (2002). Die Himmelsscheibe von Nebra — Neue Gedanken zur Deutung: Mondtäuschung).
Widerspruch: Wenn bis heute unklar ist, wie eine Mondillusion zustande kommt, ist dies kein astronomisches Wissen, welches rein phänomenologisch mit der Himmelsmechanik erklärbar war. Und sollte der Schöpfer der Himmelsscheibe nur seine Wahrnehmung einer veränderlichen Mondgröße zeigen wollen, hätte er vermutlich die goldene Kreisscheibe größer gestaltet, als die Sichel. Denn bei einem Vollmond ist die Größenveränderung viel auffälliger, als bei einer 4,5 Tage alten Mondsichel.
Fazit:
Zu den zwei großen und zentralen Elementen der Himmelsscheibe von Nebra gibt es verschiedene Hypothesen, die einige charakteristische Merkmale der beiden wichtigsten Gestirne, Sonne und Mond, zutreffend beschreiben. Doch zugleich tauchen für jede der Interpretationen ebenso prägnante Widersprüche auf.
Obwohl die visuelle Größe der Mond- und Sonnenscheibe nahezu identisch ist, wurde aus allen bisherigen Überlegungen nicht ersichtlich, warum die Sichel ungefähr 25% größer als die Kreisscheibe dargestellt wurde. Auf der Seite “Die Kreisscheibe symbolisiert auch die Erde” werden wir sehen, dass sich vom Mittelpunkt der jener Scheibe zu den Sichelspitzen genau ein 60-Grad-Winkel öffnet, welcher der wahre Grund für die Größe der goldenen Sichel sein könnte.
Weiterlesen: Die beiden Randbögen
- 1Wunderlich, Christian-Heinrich (2004). Vom Bronzebarren zum Exponat – Technische Anmerkungen zu den Funden von Nebra. Der geschmiedete Himmel. Konrad Theiss Verlag
- 2Cidadao, Antonio (2009). Mondphasenfotos. wiki.astro.com/astrowiki/de/Datei:Mondphasen.jpg Zugriff: 12.02.2013.
- 3Mayer, Stephan (2008). Mondneigung. https://www.psy-mayer.de/links/Mondneigung.pdf)
- 4Alexander Birkner, Foto einer Mondfinsternis, www.kernschatten.info/home.htm
- 5Henseling, Robert (1932). Sonnenfinsternis 31. August 1932. Kosmische Heimat. Verlag: Der eiserne Hammer
- 6Schrode, Antonius. Kanon der Finsternisse. CD Astrobase
- 7Schultz, Joachim. (1963). Rhythmen der Sterne. Philosophisch Anthroposophischer Verlag am Goetheanum Dornach / Schweiz
- 8Mayer, Stephan (2002). Die Himmelsscheibe von Nebra — Neue Gedanken zur Deutung: Mondtäuschung